Homo ignorance

Homo ignorance – im Angesicht der Selbstzerstörung

Der Earth Overshoot Day bezeichnet den Tag im Jahr, an dem die Menschheit alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht hat, die die Erde innerhalb eines Jahres wiederherstellen und damit nachhaltig zur Verfügung stellen kann. Ein Tag, der jedes Jahr früher kommt. Prof. Dr. Stephan Haubold, Studiendekan Wirtschaftschemie (B.Sc.), warnt uns in seinem Gastbeitrag eindringlich, dass wir genau jetzt unsere Lebensweise grundlegend ändern müssen.

Earth Overshoot Day 2023 - Grafik nach Ländern
Quelle: National Footprint and Biocapacity Accounts, footprintnetwork.org

Ich glaube …

Ich glaube, dass das Ziel allen menschlichen Handelns ist, glücklich zu werden. Auch wenn Glück ein subjektives und ziemlich komplexes Gefühl ist, sind sich Mainstream-Ökonomen und Politiker sicher, dass persönlicher und materialistischer Reichtum den Menschen glücklich macht. Daher schufen sie das Modell des Homo oeconomicus1 und richteten ihre Entscheidungen und Ziele nach diesem Modell aus, das unseren Planeten und die Menschheit in Richtung Zerstörung treibt.

Nach 180 Jahren Industrialisierung scheint es für viele Entscheidungsträger eine totale Überraschung zu sein, dass der Planet, auf dem wir leben, endlich ist. Was tatsächlich für uns alle überraschend kam, war die Tatsache, dass uns nicht zuerst die Ressourcen ausgingen, sondern die Senken, um unseren Abfall zu kompensieren. Die Senken für Chemikalien, Treibhausgase und Kunststoffe sind voll und als Folge davon heizt sich der Planet auf, verliert in rasantem Tempo Artenvielfalt, Süßwasservorräte und fruchtbares Land zum Leben.

Wie können wir dieses selbstzerstörerische Verhalten stoppen? Gibt es einen Weg, nicht zu wachsen und gleichzeitig glücklich zu sein? Ich bin überzeugt, dass wir dafür bei unserem Selbstverständnis anfangen müssen. Wer sind wir Menschen? Wie verhalten wir uns? Was bringt uns dazu, uns zu verändern? Mit anderen Worten: Wir brauchen ein neues Modell des Homo sapiens.

… wir müssen erkennen

Ewiges Wachstum ist physikalisch unmöglich. Komplexe Strukturen, z.B. Stahl oder Beton, bestehen aus Molekülen, die wiederum aus Atomen bestehen. Es kann daher niemals mehr komplexe Strukturen geben als Moleküle- oder mehr Moleküle geben als es Atome auf dieser Welt gibt. Soweit, so trivial.

Die Grundlage unserer Wirtschaft ist es, komplexe Strukturen aus Atomen zu produzieren, die aus unserer Umwelt gewonnen werden.

Jeder einzelne dieser Gewinnungsprozesse benötigt Energie, die direkt oder indirekt in Form von Biomasse oder in Form von Öl, Kohle und Gas in konzentrierter Form gespeichert ist.

Jedes Mal, wenn wir Atome oder Moleküle in komplexere Strukturen umwandeln, verteilen wir diese konzentrierte Energie in Form von Wärme unwiderruflich in unserer Umwelt und emittieren CO2.

Normalerweise ist die Erde in der Lage Wärme mit dem uns umgebenden Raum auszutauschen. Es sei denn, wir packen uns in eine mit CO2 oder Methan angereicherte Atmosphäre, die die Wärme zurück zur Erde reflektiert und uns damit „schön warm hält“.

In der Wirtschaft gibt es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur eine zentrale Kennzahl: das Wachstum des BIP (Bruttoinlandsprodukts). Nicht, weil dies ein Naturgesetz ist, sondern weil das Modell, das zur Erklärung des menschlichen Glücksstrebens verwendet wird, besagt, dass Menschen glücklicher sind, wenn sie mehr als weniger haben.

Dieses Modell bezieht sich nur auf materialistisches Wachstum. Demzufolge hängt das Glück einer Gesellschaft nur von einer wachsenden Wirtschaft ab. Dieser Wettlauf um den größten BIP-Wachstums-Prozentsatz hat dazu geführt, dass wir nicht nur das Gesicht einiger weniger, weit entfernter und menschenleerer Region verändert haben, sondern das Gesicht unseres gesamten Planeten.

… uns verändern

Doch macht uns der materielle Wohlstand wirklich glücklich? Verhindert er, dass sich Gesellschaften radikalisieren oder in den Krieg zu ziehen? Ich glaube, die Antwort lautet: Nein. In manchen Gesellschaften hat eine große Mehrheit der Menschen mehr Nahrung als sie essen können2, mehr Kleider als sie tragen können und mehr Freizeit als sie jemals mit Konsum füllen könnten. Und trotzdem sehen wir wie in Europa und den USA radikale Parteien auf dem Vormarsch sind und Menschen nicht für materiellen Reichtum, sondern für persönliche Rechte und Gerechtigkeit3 demonstrieren. Seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zeigen Studien, dass zwar das BIP in vielen Ländern wächst, sich die entsprechenden Glücksindikatoren jedoch nicht parallel entwickeln4.

Wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch überleben will, ist es höchst überraschend, dass er wir die einzige Spezies auf der Erde zu sein scheinen, die wissentlich ihren Lebensraum zerstört und gleichzeitig diese Tatsache leugnet. Also, entweder sind wir unverrückbar „on a highway to hell“, oder unsere Perspektive darauf wie wir Menschen funktionieren ist fundamental falsch. Da ich ein Optimist bin und die Geschichte gezeigt hat, dass der Mensch sowohl sich als auch seine Umwelt fundamental verändern kann, bevorzuge ich Letzteres.

Im August 2020 erreichte die „Polarstern“, ein deutscher Eisbrecher, auf dem Seeweg den Nordpol5. Wir sahen, wie Kalifornien6 und Australien7 brannten und Deutschland das dritte Jahr in Folge unter einer Dürre in Folge litt8. Der Klimawandel und seine fundamentale Bedrohung für alle Arten auf der Erde finden mit steigender Geschwindigkeit statt. Wir müssen handeln – jetzt.

Dennoch schlagen Ökonomen vor, den Klimawandel mit grünem Wirtschaftswachstum zu bekämpfen9. zum Beispiel sollen so viele E-Autos wie möglich genutzt werden, um den CO2-Ausstoß zu bekämpfen. Kurzfristig mag das eine Lösung sein. Doch schnell müssen wir anerkennen, dass Elektroautos aus etwas gemacht sind, das aus etwas gemacht ist. Wir sind also wieder da, wo wir angefangen haben. Es wird anderer, aber zusätzlicher Abfall produziert. Land, Luft und Wasser werden zerstört, die Senken werden sich weiter füllen und das Ökosystem weiter überlastet. Wir haben das Problem nur von der einen „Ecke“ unseres runden Planeten in eine andere verschoben.

Überraschend ist diese Entwicklung nicht. Erste Äußerungen sind bereits aus dem Jahr 1912 dokumentiert, die einen Temperaturanstieg vorhersagen, wenn wir mit der gleichen Geschwindigkeit CO2 in die die Atmosphäre ausstoßen10. Eine Prophezeiung, die sich angesichts der neuesten Daten bewahrheitet hat. Die Petrochemische Industrie wusste bereits 1978 mit Sicherheit, was sie taten. Exxon hatte ein Team von Wissenschaftlern beauftragt, die Auswirkungen der Verbrennung fossiler Brennstoffe auf das Klima zu untersuchen. Das Ergebnis war eindeutig: Die globale Durchschnittstemperatur würde um zwei bis drei Grad Celsius steigen, wenn sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre verdoppelt. Als Konsequenz begann Exxon Lobbyarbeit gegen Maßnahmen zur Klimavorsorge für die nächsten Jahrzehnte zu betreiben11. Dieses Verhalten ist kurzsichtig, irrational und irritierend für jeden, der mit den Naturgesetzen auch nur ein wenig vertraut ist.

Wir müssen handeln. Wir alle. Und ich bin überzeugt, dass wir ein neues Modell des Homo sapiens brauchen, das den Bürgern, den Politikern und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern Orientierung gibt.

… und akzeptieren, wer wir sind

Ich möchte dir daher, die Merkmale des Models „Homo ignorance“, wie ich sie sehe, vorstellen und zur Diskussion stellen:

Sobald wir eine Information für wahr halten, halten wir daran fest, auch wenn es neue Beweise gibt. Diese bezieht sich auf unsere Angst vor Inkompetenz. Wir sind schwer lernfähig und hassen es, uns inkompetent zu fühlen. Zuzugeben, dass eine frühere „Tatsache“ unwahr ist, würde bedeuten, zuzugeben, dass wir die ganze Zeit falsch lagen. Wir kämpfen lieber für alte Unwahrheiten, als zuzugeben, dass wir uns geirrt haben.

Als Kinder wollen wir Teil einer Familie oder Gruppe sein, mit der wir uns identifizieren können und zu der wir gehören. Als Erwachsene wollen wir Teil einer Gruppe sein, so sehr, dass wir sogar extreme Positionen und Misshandlungen von anderen Gruppenmitgliedern oder Ehepartnern akzeptieren, solange wir ein akzeptiertes oder geliebtes Mitglied der Gruppe sind. Das gibt uns ein Gefühl von Sinn, Sicherheit und Geborgenheit. Alles innerhalb unserer Gruppe ist besser, als unsere Gruppe für einen unbekannten neuen Kontext zu verlassen.

Wir können uns in andere einfühlen und sogar Empathie für Mitmenschen haben, die außerhalb unserer Gruppe sind, solange sie zu unserer Generation gehören. Wir sind bereit, unser Verhalten denjenigen anzupassen, die zu unserer Generation gehören, aber nicht für unsere Kindergeneration oder unsere Elterngeneration.

Obwohl wir wissen, dass die Zerstörung der Umwelt unserer Kindergeneration schadet, sind wir nicht bereit, unseren „hart erarbeiteten“ Lebensstil für sie aufzugeben. Es scheint, als wollten wir uns lieber für unsere Errungenschaften und harte Arbeit belohnen als für die nächste Generation auf etwas zu verzichten.

Wir denken, dass wir der Elterngeneration nichts schulden. Wir geben ihnen die Schuld für unsere Schwierigkeiten im Leben und das, was sie uns vererbt haben, ob sie es nun tatsächlich getan haben oder nicht.

Jeder außerhalb unserer Gruppe wird als Fremder und damit potenziell gefährlich angesehen. Diejenigen jedoch, die unsere Sprache mit dem gleichen Akzent sprechen und in der Nähe unserer Wohnung leben, sind Mitmenschen, für die wir bereit ist, Empathie zu entwickeln.

Wir sind in der Lage, jemanden für sein Fehlverhalten auch auf eigene Kosten zu bestrafen. Wir schätzen also die Einhaltung von Regeln höher ein als unseren eigenen Profit. Wir verstehen, dass wir im Chaos und in Unsicherheit versinken würden, wenn wir uns nicht an die Regeln des menschlichen Miteinanders hielten.

Die Umweltbewegung hat gezeigt, dass der Mensch auch gegenüber anderen Arten auf diesem Planeten altruistisch ist. Wir sind z. B. bereit, auf Infrastrukturverbesserungen zugunsten eines bedrohten Lebensraumes und der darin lebenden Arten zu verzichten oder sogar für die Rettung einer Spezies irgendwo auf der Erde zu bezahlen auch wenn wir mit dieser weder verwandt sind noch einen direkten Nutzen aus ihrer Existenz ziehen.

Ich glaube, dass ein Fakt das ist, worauf sich die Mehrheit einigt. In der Wissenschaft gibt es jedoch Fakten, die mit allen Sinnen und von allen Menschen gleichermaßen verarbeitet werden können. Es ist also unstrittig, ob der Meeresspiegel und die Temperatur auf der Erde steigen, auch wenn ihre Entstehung und die Folgen daraus es sein können. Rationalität erfordert vollständige Information und die Abwesenheit von Emotionen wie Angst, Liebe, Glück usw. Wir sind allerdings voll von Angst, Liebe und Glück etc. und daher wenig rational. Menschen, die ihre Emotionen weder spüren noch ausdrücken, würden wir sogar als krank bezeichnen.

Es ist ein Naturgesetz, dass wir nicht alle Informationen haben können. Wenn wir in der Lage wären, den genauen Ort, die Geschwindigkeit und die Bewegungsrichtung eines jeden Atoms zu einem bestimmten Zeitpunkt messen zu können, wären wir in der Lage, die Zukunft vorherzusagen. Nun besagt die Unschärferelation von Heisenberg, dass wir, wenn wir den genauen Ort eines Atoms kennen, wir nicht gleichzeitig seinen exakten Impuls kennen können. Da der Impuls die Geschwindigkeit und Richtung des Atoms angibt, scheitern wir bei dem Versuch, seinen Ort in der Zukunft vorherzusagen.

Infolgedessen sind wir nicht in der Lage, die Zukunft vorherzusagen.

Wir sind bereit, unsere persönliche Freiheit, Wohlstand und sogar unsere Familien für das persönliche Gefühl der Sicherheit aufzugeben. Um persönliche Sicherheit zu erlangen, sind wir bereit, alle anderen Ängste zu überwinden. Wir ziehen in fremde Länder, wir lassen unsere Kinder zurück, wir verlassen unser Zuhause und sind bereit, in einer neuen und sicheren Umgebung alles von Grund auf neu zu lernen.

Wir sind in der Lage, uns das Ergebnis unserer Handlungen vorzustellen und über die möglichen Folgen zu reflektieren. Auch wenn wir die Zukunft als solche nicht vorhersagen können, sind wir in der Lage, verschiedene Versionen der Zukunft zu simulieren, je nachdem, welche Entscheidungen wir heute treffen. Dies gibt uns die Möglichkeit, andere Entscheidungen zu treffen und die Richtung unseres Handelns zu ändern.

Wenn wir einmal die Notwendigkeit akzeptiert haben, dass wir etwas ändern müssen, sind wir in der Lage, uns zu ändern. Die Geschichte hat gezeigt, dass Menschen in der Lage sind, ihr Verhalten radikal zu ändern, jenseits des biologischen Wandels, verursacht durch die Evolution.

Fazit

Der Homo ignorance ist weder gut noch schlecht. Er ist. Sobald wir in der Lage sind, dies zu akzeptieren, ohne andere zu beschuldigen oder uns selbst zu beschämen, können wir uns weiterentwickeln. Angenommen, der Homo sapiens ist Homo ignorance, was bedeutet das für unsere politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen?

Ohne die Akzeptanz eines neuen Modells werden wir versuchen, unsere Probleme mit denselben Strategien zu lösen, die wir in den letzten Jahrhunderten angewandt haben und die uns geradewegs in die Katastrophe führen.

Mehr vom Selben wird nicht hilfreich sein. Deshalb appelliere ich eindringlich an meine Mit-Homo-Ignoranten, zu akzeptieren, wer wir sind, und sich mit mir auf den Weg zu machen, um die Art und Weise, wie wir leben, zu ändern, und zwar jetzt.