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Rund 200 verschiedene Gebärdensprachen gibt es weltweit, etwa 60 von ihnen sind bisher erforscht und mehr oder weniger dokumentiert. Liona Paulus, Dozentin im Masterstudiengang Gebärdensprachdolmetschen an der Hochschule Fresenius in Idstein und selbst taub, beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit dem Vergleich der Deutschen und der Brasilianischen Gebärdensprache. Für uns ein Anlass, sie zur Internationalität von Gebärdensprachen zu befragen und etwas über den unterschiedlichen Umgang mit Gehörlosen in Deutschland und Brasilien zu erfahren.
Laien machen grundsätzlich den Fehler, Gebärdensprache mit Pantomime gleichzusetzen. Und Pantomime wird generell von allen weltweit verstanden. Sie haben deshalb keine Vorstellung, dass es auch hier Dialekte und Fremdsprachen gibt. Eine Gebärdensprache ist sehr differenziert, neben den Handbewegungen spielen auch die Mimik, die Bewegungen von Augenbrauen und Lidern, die Kopf- und Oberkörperhaltung sowie die Mundgestik eine wichtige Rolle. Eine winzige Veränderung dieser Elemente kann die Bedeutung des Gesagten verändern. Ein Beispiel: Führe ich die zu einem Becher geformte Hand an den Mund, bedeutet das grundsätzlich „Ich trinke“. Ziehe ich dabei die Augenbrauen hoch, wird daraus eine Frage: „Trinke ich?“. Wer hier eine Unterhaltung führen will, muss genau hinschauen und die Fähigkeit haben, diese Veränderungen sehr schnell zu bemerken und zu dekodieren.
Ja. Das ist die American Sign Language (ASL), die offiziell in den USA und in Kanada gesprochen wird. Sie ist die bisher meist erforschte Gebärdensprache und in vielen Ländern – vorwiegend in Lateinamerika, Afrika und Südostasien – weit verbreitet, weil amerikanische Missionare die ASL dorthin brachten. Spannend ist die „International Sign“: Das ist eine vitale und oftmals „spontan“ entstehende Kommunikationsform, ähnlich einer Pidgin-Sprache. Verwendet und weiterentwickelt wird sie bei allen möglichen Gelegenheiten – vorausgesetzt die Gesprächspartner haben keine gemeinsame Gebärdensprache. Anlässe sind zum Beispiel internationale Konferenzen, die Deaflympics (der Ausdruck für die Sommer- und Winterspiele der Tauben), Kunst- oder Theaterfestivals, alles von und für Gebärdensprachler. Das Ergebnis ist daher sehr beeindruckend: Ein tauber Deutscher ist in der Lage, sich binnen weniger Stunden oder Tage mit einem Gleichgesinnten aus China nicht nur zu verständigen, sondern sogar zu komplexen Themen wie Politik, Gefühlen oder Humor auszutauschen. Das ist auch ein Grund dafür, warum taube Personen sehr reisefreudig sind und unterwegs schnell Anschluss finden.
Hier gibt es nun tatsächlich signifikante Unterschiede: Die American Sign Language (ASL) hat wesentlich mehr Gemeinsamkeiten mit der Französischen Gebärdensprache als mit der Britischen. Das liegt daran, dass die Französische Gebärdensprache (LSF) im 18. Jahrhundert von Frankreich nach Amerika gekommen ist, die Britische Gebärdensprache (BSL) ist vor Ort entstanden und eine lokale Sprache geblieben. Die Französische Gebärdensprache weist außerdem viele Übereinstimmungen mit der Brasilianischen, Mexikanischen, Österreichischen und Russischen Gebärdensprache auf, weil es auch hier Überlieferungen gab. Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist ähnlich wie die BSL eine lokale Sprache. Sie zeigt keine weiteren größeren Verwandtschaften auf, außer mit der Israelischen Gebärdensprache. Denn einige jüdische Gehörlosenlehrer und taube Schüler der Israelitischen Taubstummenanstalt in Berlin-Weißensee sind auf Grund der Repressalien durch die Nationalsozialisten über London nach Israel geflohen, ließen dort die Schule wiederaufleben und verwendeten die DGS weiter.
Das hängt davon ab, ob man schon eine Gebärdensprache beherrscht oder nicht. Als DGS-Muttersprachlerin habe ich die Brasilianische Gebärdensprache (Libras) relativ schnell gelernt, da emotionale Ausdrücke und viele grammatikalische Formen ähnlich sind. Trotzdem: Fließend beherrschte ich Libras erst nach ca. drei Jahren. Möchte nun jemand ohne Vorkenntnisse in einer Gebärdensprache damit anfangen, können bis zu sieben Jahre ins Land gehen – das ist zudem abhängig vom Lerntyp, dem Talent und der eigenen Persönlichkeitsstruktur. Das ist nicht anders als beim Erlernen einer gesprochenen Fremdsprache.
In der Tat hat mich der Aufenthalt vor 13 Jahren dort sehr geprägt. Es war für mich persönlich eine wichtige Auszeit. In Deutschland gab es für mich nicht die Möglichkeit, in Gebärdensprache unterrichtet zu werden. So habe ich die Schulzeit aufgrund des permanenten Lippenlesens und zeitraubender Kompensationsstrategien bei der Informationsgewinnung als sehr anstrengend und frustrierend empfunden und habe eine längere Pause gebraucht. In Brasilien habe ich erfahren dürfen, dass ich auch als tauber Mensch mit der Gebärdensprache ein gebildeter und sehr zufriedener Mensch werden kann. Das liegt tatsächlich am anderen Umgang mit den tauben Menschen: Während man in Deutschland als Tauber als „behindert“ eingestuft wird, gehört man in Brasilien eher einer „sprachlichen Minderheit“ an. Das größere Entgegenkommen macht sich an vielen Stellen im Alltag bemerkbar: Zum Beispiel gibt es auf den Monitoren an den Flughäfen Gebärdensprach-Avatare. Man kann im ganzen Land in Brasilianischer Gebärdensprache sein Abitur machen. Nicht zuletzt nimmt die Zahl der nicht-gehörlosen Brasilianer, die der Gebärdensprache mächtig sind, beständig zu. Ich muss daher konstatieren, dass Deutschland hier im Vergleich stark hinterherhinkt.
Wenn man als Dolmetscher neben Deutsch und DGS noch Englisch und ASL, BSL oder International Sign sehr gut beherrscht, erhöht das die ohnehin exzellenten Berufsaussichten. Beispielsweise an Hochschulen und Universitäten nimmt die Zahl der tauben Mitarbeiter stetig zu. Und auch im internationalen, wissenschaftlichen Austausch sind solche Sprachpaare sehr gefragt.
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