Klimakrise, Globalisierung, digitale Transformation – die Welt muss sich einer Vielzahl an massiven Herausforderungen stellen. ‚Business as usual‘ ist dabei auch für Unternehmen keine Option. „Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen: für Lebewesen, zukünftige Generationen und die Natur“, sagt Prof. Dr. Anke Turner, Professorin für Internationales Management an der Hochschule Fresenius in Hamburg. Im Interview erklärt sie, warum die indische Vedanta-Philosophie Managern dabei helfen kann, verantwortungsbewusster und fürsorglicher zu handeln.
Unternehmen agieren in einem sozialen, politischen und ökologischen Kontext, nicht losgelöst davon. Herausforderungen auf gesellschaftlicher Ebene wie Globalisierung, technologischer Wandel, Klimakrise, soziale Ungleichheit oder Protektionismus haben direkte Auswirkungen auf unternehmerischen Chancen und Risiken. Als Teil der Gesellschaft sollten Unternehmen auch ihren Anteil an der Fürsorge für Lebewesen, zukünftige Generationen und die Natur übernehmen.
Die Forschung zeigt, dass sich nachhaltiges unternehmerisches Verhalten ökonomisch auszahlt. Der wirtschaftliche Erfolg der ostfriesischen Upstalsboom-Hotelgruppe oder des kalifornischen Outdoor-Bekleidungsherstellers Patagonia sind positive Beispiele für menschenorientierte und nachhaltige Unternehmensführung. Ihr Vorgehen spiegelt viele Prinzipien der Vedanta-Philosophie wider.
Da gibt es einerseits Wirtschaftsakteure, die für den (persönlichen) Gewinn den verursachten gesellschaftlichen Schaden aus der unternehmerischen Tätigkeit billigend in Kauf nehmen. Andererseits möchte sich die Mehrheit der Marktteilnehmer verantwortungsbewusst verhalten und folgt dann im Einzelfall mehr oder weniger unbewusst äußeren und inneren Zwängen. Ein Beispiel ist ein ökologisch denkender Manager, der aus Bequemlichkeit den Flieger statt die Bahn nimmt. Auf individueller Ebene spricht man dann von einer Intentions-Verhaltenslücke. Diese multipliziert sich auf der Ebene des Unternehmens als einer aus vielen Menschen bestehenden Institution.
Vedanta erklärt die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit unter anderem mit dem Unterschied zwischen Wissen und Weisheit. Wissen kann man quasi unbegrenzt aus dem Internet ziehen. Wissen wird erst zu Weisheit, wenn sich das Wissen automatisch in Taten ausdrückt, wenn Wissen sozusagen Teil der Neurobiologie wird, die Persönlichkeit und dadurch das Handeln verändert.
Vedanta-Philosophie schlägt verschiedene Wege und Praktiken vor, um Wissen zu erlangen und dem Wissen Taten folgen zu lassen. Ökologische Verantwortung drückt sich dann beispielsweise in der Wahl der Transportmittel (oder dem Verzicht darauf) aus.
Ein wichtiges Paradigma der Vedanta-Philosophie ist, dass alles Leben in einer fundamentalen Weise miteinander verbunden ist. Die Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse und Handlungen aller Menschen stehen in einem sehr komplexen Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Wenn sieben Milliarden Menschen nur ihre eigenen Bedürfnisse oder nur die Bedürfnisse einer kleinen Gruppe wie die der Familie, des Unternehmens oder vielleicht des Heimatlandes durchsetzen wollen, sind Interessenskonflikte vorprogrammiert. Irgendeiner muss dann Abstriche machen: andere (zukünftige) Menschen, Lebewesen, die Natur. Als Vedanta-Philosoph arbeitet man kontinuierlich daran, so wenige Friktionen wie möglich mit der Außenwelt zu verursachen. Weniger Friktionen bedeuten nach Vedanta auch weniger Stress, Angst und negative Gefühle oder positiv ausgedrückt eine höhere Qualität von Wohlbefinden bzw. Glück.
Wenn man seine Fürsorge auf einen größeren Kreis von Stakeholdern ausweiten kann, so die Idee, profitiert man selbst auch davon. Vedanta betont dabei die Bedeutung von Reflexion, kritischem Denken, Selbst- und Menschenkenntnis und daraus abgeleiteten rationalen Handlungen. Das sollte auch verhindern helfen, dass man von auf den eigenen Vorteil bedachten Akteuren über den Tisch gezogen wird.
Vedanta-Philosophie hat zwei große Themen: Das Erlangen von Wissen und Weisheit und der kontinuierliche Selbstverbesserungsprozess, der damit einhergeht. Das verlangt nach Lernagilität, sprich: Veränderungsbereitschaft auf allen Ebenen der Persönlichkeit. Die größte Herausforderung bei der Umsetzung ist deshalb Widerstand gegen Änderungen, sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei den Führungskräften. Wie herausfordernd das ist, sehen wir zurzeit in der Unternehmenspraxis bei digitalen Transformationsprojekten.
In der Vedanta-Philosophie steht der Mensch im Mittelpunkt. Schon in den jahrtausendealten Schriften, auf die sich Vedanta bezieht (die Upanishads als Teil der Veden), wird sich damit beschäftigt, wie sich der einzelne Mensch subjektiv ein erweitertes Bewusstsein und ein tieferes Glücksempfinden (Sanskrit: ananda) erarbeiten kann. Im Unternehmenskontext heißt das beispielsweise für Akteure: Wie muss ich meine unternehmerische Tätigkeit ausgestalten, um gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich und mental ausgeglichen und zufriedener zu sein? Oder weisere, nachhaltige Entscheidungen zu treffen? Wenn eine zunehmende individuelle Weisheit organisatorisch und gesellschaftlich skaliert wird, sollte sich dies auch in wirklich nachhaltigem Unternehmertum und politischen Handeln manifestieren.
Vedanta betont dabei die Heterogenität der menschlichen Persönlichkeiten, für die es keine Allheilslösung gibt, sondern auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene, seit Jahrhunderten erprobte Praktiken.
Zukünftig wird erwartet, dass Asien aufgrund des Bevölkerungsanteils, Offenheit gegenüber technologischen Entwicklungen und des zunehmenden ökonomischen Gewichts eine viel größere Rolle im Weltgeschehen spielen wird. Vielleicht ist heute ein guter Zeitpunkt, um respektvoll und gleichberechtigt Impulse aus nicht-westlichen Philosophien in die unternehmensethische Debatte aufzunehmen. Als positiven Nebeneffekt vertieft sich möglicherweise auch das interkulturelle Verständnis.