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Seelennahrung in der Krise? Die Musikbranche in der Corona-Pandemie

02.03.2021

Musikbranche in der Krise während Corona

Ob leere Konzertsäle, verwaiste Festivalgelände oder das Streamen von Livemusik aus dem eigenen Wohnzimmer – die Auswirkungen der Corona-Pandemie treffen die Musikbranche schwer. Doch was bedeutet das für den Berufsalltag und die psychische Gesundheit der Menschen? Wie können sie mit der Situation umgehen? Und was erwartet sie, wenn die Pandemie vorbei ist?

Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigte sich Prof. Dr. Katja Ehrenberg, Psychologieprofessorin an der Hochschule Fresenius in Köln, und sprach mit zahlreichen Menschen, die im europäischen Live-Musik-, Festival- und Eventsektor tätig sind. In unserem Interview gibt sie nun spannende Einblicke hinter die Kulissen der Branche.

Sie haben schon vor der Corona-Pandemie angefangen, sich mit der Live-Musik-, Festival- und Eventbranche zu beschäftigen, und Menschen interviewt, die in diesem Bereich tätig sind. Was macht die Branche für Sie so interessant?

Die Branche ist in vielerlei Hinsicht sehr spannend. Auf Festivals wird viel in Bewegung gesetzt, was den sozialen Wandel, politisches Engagement und die Überwindung von Grenzen in der Jugendkultur betrifft. Aus sozialpsychologischer und soziologischer Perspektive geht es dabei um Internationalität und ein spezielles, identitätsstiftendes Lebensgefühl. Gleichzeitig ist die Branche aus organisations- und arbeitspsychologischer Sicht sehr interessant, weil die Menschen, die in ihr tätig sind, sie mit ihrem Glam-Faktor, dem Rock-and-Roll- und Club-Life als sehr inspirierend, aber natürlich auch als belastend erleben.

In der Branche haben viele einen großen Gestaltungsspielraum und können sehr kreativ sein. Sie arbeiten in einem sehr agilen Setting mit einem schönen Team-Spirit und dem fantastischen Gefühl, etwas Besonderes zu schaffen. Auf der anderen Seite wird von ihnen extrem viel gefordert. Die Entlohnung ist zum Teil schlecht. Die Arbeitszeiten und der Stresspegel sind dagegen extrem hoch, weil die Teams teilweise in wenigen Tagen das Jahresgehalt der ganzen Crew verdienen müssen. Es gibt also einen spannenden Spagat zwischen wirklich extremen Aspekten und wir interessieren uns dafür, wie die Menschen ihn erleben. Mein Co-Autor Holger Jan Schmidt ist selbst seit Jahrzehnten beruflich in verschiedenen Rollen in dem Bereich tätig und bringt nicht nur seine Kontakte, sondern auch seinen Insider-Blick in das Projekt ein.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben einen großen Einfluss auf die Branche. Warum treffen die Einschränkungen sie besonders schwer?

Die Branche wurde mehr oder weniger als erste geschlossen und wir können zumindest in Bezug auf Großveranstaltungen davon ausgehen, dass sie wahrscheinlich die letzte sein wird, die wieder öffnen darf. Die meisten Menschen, die in ihr tätig sind, verstehen die Notwendigkeit dieser Maßnahmen. Sie fühlen sich aber zum Teil auch ungleich behandelt, weil es für sie nur schwer nachvollziehbar ist, warum beispielsweise in einem Stadion vor Publikum Fußball, aber nicht Musik gespielt werden darf. Zugleich ist es im künstlerischen, aber auch im Veranstaltungsbereich gang und gäbe, dass Menschen freiberuflich arbeiten und dabei von Saison zu Saison leben. Die Maßnahmen bedeuten für sie also eine echte existenzielle Bedrohung.

„Was die Menschen in der Musikbranche antreibt, ist letztendlich das Teilen von Emotionen, Verbundenheit und Gemeinschaft – und das brauchen wir in Zeiten wie diesen.“

Prof. Dr. Katja Ehrenberg

Von welchen Belastungen sind Künstlerinnen und Künstler, aber auch andere Personen aus der Branche durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen?

Die Auswirkungen der Pandemie verschärfen ohnehin präsente Themen wie Substanzmissbrauch, Ängste, Depressionen und Suizidalität, die nicht nur prominente Künstlerinnen und Künstler wie Keith Flint oder Billie Eilish, sondern ebenso Menschen hinter den Kulissen betreffen. Einer unserer Interviewpartner sagte: Für jeden Avicii gibt es tausend Roadies, die ähnliche Probleme haben. Hinzu kommen aktuell Existenz- und Zukunftsängste, eine große Unsicherheit und die Frage nach dem Sinn. Das wollten wir in unseren Interviews ausleuchten, diese faszinierende, aber auch sehr besondere Welt, in der es einerseits eine starke Solidarität gibt, die andererseits aktuell mit der Infragestellung der Bedeutung von Kultur in der Gesellschaft umgehen muss. Während der Pandemie empfinden viele Menschen, die in Kunst und Kultur tätig sind, diesen Umstand als sehr belastend und es liegt uns sehr am Herzen, aufzuzeigen, wie sie dadurch nicht nur wirtschaftlich, sondern auch psychisch massiv an ihre Grenzen kommen.

Dabei brauchen Menschen gerade in Krisenzeiten Seelennahrung. Und das ist nun einmal das, was Musik und Kultur für viele ist. Zugleich bleibt es für Menschen, die davon leben, Kunst und Kultur zu ermöglichen, wesentlich, weiterhin gesehen und auch in der Krise unterstützt zu werden. Unter anderem deshalb präsentieren wir unsere Arbeit auf Branchenkonferenzen und sind in diesem Jahr auch zur International Live Music Conference (ILMC) in London eingeladen, was für uns eine große Ehre ist und uns sehr freut. So bekommt das Thema in der Branche die Sichtbarkeit, die es verdient. Darüber hinaus wünschen wir uns, dass auch die Gesellschaft sieht, dass es hier nicht nur um Luxus und Spaß geht, sondern dass das, was die Menschen in der Musikbranche antreibt, letztendlich das Teilen von Emotionen, Verbundenheit und Gemeinschaft ist – und das brauchen wir in Zeiten wie diesen.

Wie sie bereits erwähnt haben, ist die Arbeit im Bereich von Musik, Kunst und Kultur stark von Stress und Zeitdruck geprägt. Was macht das mit der psychischen Gesundheit der Menschen?

Ein Faktor, zu dem es auch Forschung gibt, ist, dass kunst- und musikaffine Menschen eine besondere Sensitivität mitbringen, die sie beispielsweise für Ängste, depressive Episoden oder im Extremfall auch psychotisches Erleben anfällig macht. Ein weiterer Faktor sind die belastenden Arbeitsbedingungen, die auch mit einem großen Erfolgsdruck und der daraus resultierenden Unsicherheit zu tun haben. Man weiß nie genau, wie gut und erfolgreich eine Veranstaltung ablaufen wird, es ist nicht planbar und immer mit einem Risiko behaftet. Hinzu kommen die heftigen Arbeitszeiten, die auch in unseren Interviews beschrieben wurden: über Wochen, teilweise Monate Road-Life mit viel Stress, ungesunder Ernährung und zu wenig Schlaf.

Im Rahmen unserer Interviews haben wir auch mit Personen gesprochen, die Booking machen, zum Teil auch in Ländern, in denen viel weniger Budget für Kultur als in Deutschland vorhanden ist. Dort kämpft man schon um Dinge wie eine Künstlersozialkasse, die bei uns selbstverständlich ist. Eine Tourbegleiterin, die unter anderem auch Merchandising und Fotografie macht und als Freiberuflerin seit rund zwanzig Jahren erfolgreich ist, sagte uns, dass viele ihrer Freundinnen und Freunde derzeit in Supermärkten Regale einräumen und nicht wissen, wie es in der nächsten Saison weitergehen wird. Wenn man seiner Tätigkeit mit Leidenschaft nachgeht, sie als Beruf und Berufung wahrnimmt und dabei durchaus schon Geld verdient hat, greift das natürlich das Selbstwertgefühl und das Selbstverständnis an.

Prof. Dr. Katja Ehrenberg, Psychologieprofessorin an der Hochschule Fresenius in Köln, interviewte zahlreiche Menschen aus der europäischen Live-Musik-, Festival- und Eventbranche. Die Interviews und Ergebnisse des Forschungsprojekts sind veröffentlicht in:

Ehrenberg, K., Schmidt, H. J. (2020). Stay SOUND & CHECK yourself. Mental health and stress behind the scenes of the live music, festival and event industry. Bonn: Book on Demand im Kid Verlag. (284 S. DIN A4 Softcover mit zahlreichen Fotos, 18 €)

Welche Möglichkeiten haben die Menschen im Lockdown noch, um ihren Beruf auszuüben? Und konnten hier auch positive Erfahrungen gemacht werden?

Im Januar durfte ich ein digitales Event eines großen niederländischen Festivals miterleben, an dem normalerweise etwa 40.000 Menschen teilnehmen. Es gibt auch Autokonzerte, coronakonforme Open Airs und andere Veranstaltungen, die digital möglich sind. In Bonn gab es zum Bespiel BonnLive, bei dem Künstlerinnen und Künstler auf dem Dach eines großen Hotels vor einer schönen Kulisse am Rhein live und unplugged gespielt haben, dies gestreamt wurde und man spenden konnte. Es entstehen viele Dinge, die auch angenommen werden, aber weder das Gefühl der Teilnehmenden noch die Einnahmen sind mit einem normalen Konzert vergleichbar. In unseren Interviews sagte eine Gesprächspartnerin: Es gibt viele neue Ideen und wir versuchen, kreativ zu sein, aber am Ende des Tages sind wir eine Live-Industrie und keine digitale Industrie.

In Bereichen wie Marketing, PR oder Social Media gibt es derzeit viel Arbeit. Ansonsten beschäftigen sich die Menschen mit dem, was in diesem Jahr vielleicht wieder möglich sein wird, und entwickeln verschiedene Parallelformate. Musikerinnen und Musiker können natürlich ein neues Album aufnehmen. Allerdings bringen es die Veränderungen der letzten Jahre, das Streamen von Musik, mit sich, dass mit Alben und Singles nicht mehr so viel Geld wie früher zu verdienen ist.

„Irgendwann ist die Pandemie überwunden und dann wird die Branche wahrscheinlich gebraucht und zu tun haben wie nie zuvor, weil die Menschen einen enormen Nachholhunger haben werden.“

Prof. Dr. Katja Ehrenberg

Welche Ratschläge lassen sich den Menschen aus psychologischer Sicht geben? Was können sie tun, um mit der Situation besser umzugehen?

Letztendlich ist hier alles hilfreich, was man hinsichtlich Psychohygiene empfehlen kann. Es hilft, eine Tagesstruktur zu schaffen, sich Dinge zu suchen, die Freude bereiten und sich gezielt Zeit für sie zu nehmen. Vielleicht kann man diese Zeit auch als eine Auszeit begreifen, über die viele unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sagten, dass es eine Chance ist, sich zu erholen. Ein Interviewpartner sagte beispielsweise, dass er 2020 das erste Mal seit Jahren mit seiner Familie im Sommer Urlaub machen konnte. Andere sagten: Wir machen noch einmal ein völlig neues Merchandising. Hinzu kommen ganz einfache Dinge wie gut zu schlafen, gut zu essen, sich an der frischen Luft zu bewegen, da, wo es geht, soziale Kontakte zu pflegen, gute Musik zu hören und das zu tun, für das man lange keine Zeit hatte.

Dabei geht es darum, zu versuchen, diese Dinge so gut wie möglich zu genießen. Denn eins ist sicher: Irgendwann ist die Pandemie überwunden und dann wird die Branche wahrscheinlich gebraucht und zu tun haben wie nie zuvor, weil die Menschen einen enormen Nachholhunger haben werden. Ich denke, wir spüren, was uns hier fehlt. Deshalb sollten wir als Gesellschaft den Menschen, die in der Branche tätig sind, die Anerkennung und Wertschätzung zeigen, die sie verdienen.