Gebärdensprache

„Gesichter und Hände sprechen Bände“

In Deutschland stehen etwa 200 000 Gebärdensprachnutzer 450 Dolmetschern gegenüber. So ist eine reibungslose Kommunikation zwischen Hörenden und Gehörlosen nur schwer möglich – viele Vorurteile sind die Folge: Die Gebärdensprache sei nur eine erfundene Sprache aus Pantomimen oder Gesten und die Nutzer dieser Sprache seien taubstumm. Mit der Teilnahme an der ARD-Themenwoche ergriff Prof. Dr. Carla Wegener, Studiendekanin des Master-Studiengangs Gebärdensprachedolmetschen, die Chance, auf diese Sprache und ihre Nutzer aufmerksam zu machen. Zum Thema Redefreiheit veranstaltete sie einen Slam unter anderem auch in und um Gebärdensprache. Najima El Haddad macht die Weiterbildung zur staatlich geprüften Gebärdensprachdolmetscherin. In ihrem Gebärdenslam „Poesie der Worte“ greift sie einige Vorurteile auf. Wir haben beide zum Interview getroffen.

FRAU PROF. WEGENER, WOHER KOMMT ES IHRER MEINUNG NACH, DASS DIE GEBÄRDENSPRACHE NOCH MIT SO VIELEN VORURTEILEN BEHAFTET IST?

Carla Wegener: Schwerhörigkeit und Taubheit sind „unsichtbare“ Behinderungen. Für Außenstehende werden sie erst erkennbar, wenn sich mindestens zwei Taube treffen und die visuell-gestische Kommunikation nutzen. Im Alltag begegnet man dieser Art der Kommunikation nur selten. Und wenn, dann wirkt sie in dieser anderen Modalität so ungewohnt und faszinierend zugleich, dass Unsicherheiten und Vorurteile oder Barrieren entstehen können. In einem Land wie Deutschland, in dem selbst Sprachen wie Kirgisisch oder Swahili ohne großes Aufsehen gesprochen werden, sollte das aber kein Problem sein.

Die Vorurteile liegen auch darin begründet, dass vor gut 130 Jahren, im Jahr 1880, eine internationale Gruppe an „Taubstummenlehrern“ ­– die natürlich alle hörend waren – auf dem Mailänder Kongress beschlossen hat, dass die Lautsprache im Unterricht der Taubstummenanstalten den Vorzug haben soll. Seitdem wird mit unsinnigen Argumenten vehement gegen die Gebärdensprache gekämpft: „Der Erwerb der Gebärdensprache erschwert den Erwerb der Lautsprache“ oder „Das ist keine Sprache, nur eine Kommunikationshilfe“, oder auch „Das ist eine „Affensprache“. Diesen Argumenten liegt leider mangelnde Kenntnis zugrunde und Aufklärung tut not.

WIE KANN MAN DAS ÄNDERN?

Najima El Haddad: Es wäre schön, wenn man die Deutsche Gebärdensprache bereits in den Grundschulen einführen würde, zumindest die Basics, zum Beispiel im Deutschunterricht.

FRAU PROF. WEGENER, KÖNNEN SIE UNS DIE GESCHICHTE DER GEBÄRDENSPRACHE KURZ DARLEGEN?

Carla Wegener: Die Geschichte der Gebärdensprache muss man spezifizieren, denn es gibt nicht die eine Gebärdensprache, sondern genauso viele verschiedene, wie es Lautsprachen gibt. Weltweit sind linguistisch bisher rund 60 Gebärdensprachen erfasst worden. Da wir in Deutschland sind, sprechen wir von der Deutschen Gebärdensprache, abgekürzt DGS.

Die meisten Gebärdensprachen entstehen in Gehörlosenschulen, denn das ist die einzige Institution, in der sich mindestens zwei Taube begegnen und regelmäßig Kontakt haben. Der weitere Input der Gebärdensprache kommt dann von tauben Kindern, die dieselbe Schule besuchen, und deren Eltern auch taub sind. Denn 90 Prozent aller tauben Kinder haben hörende Eltern und entsprechend kommunizieren sie selten in einer visuell-gestischen Modalität. Die DGS ist etwa vor 200 Jahren in den zahlreichen Gehörlosenschulen der deutschen Territorien – bis 1900 existierten rund 90 solcher Schulen – entstanden. Demzufolge sind Gebärdensprachen, linguistisch gesehen, sehr junge Sprachen und für Linguisten äußerst interessant, ganz besonders im Hinblick auf Sprachentstehung und -entwicklung.

ZU DEN AM HÄUFIGSTEN FALSCH BENUTZEN WÖRTERN IM ZUSAMMENHANG MIT GEBÄRDENSPRACHE GEHÖREN „GESTE“ UND „TAUBSTUMM“. KÖNNEN SIE UNS DAS BITTE KURZ ERLÄUTERN?

Carla Wegener: Gesten sind ein sehr kleiner Bestandteil der Gebärdensprachen, die im Laufe der eigenen Gebärdensprachgeschichte grammatikalisiert worden sind. Falsch ist es in dem Kontext nicht. Jedoch ist es falsch, von einer „Gestensprache“ zu sprechen.

„Taubstumm“ ist ein veraltetes Wort, das besonders im 18. und 19. Jahrhundert häufig verwendet wurde. In diese Zeit fällt auch die Gründung des Bildungswesens beziehungsweise der Pädagogik und der Gehörlosenpädagogik als Teildisziplin. Oftmals wurde und wird noch immer „taubstumm“ mit „dumm“ gleichgesetzt, weil die Kommunikation oft nicht gut verlief. Tatsächlich sind aber Hörgeschädigte und Taube nicht stumm, sondern in der Lage zu sprechen, egal ob in Laut- oder Gebärdensprache. Um diese Assoziation von „taubstumm gleich dumm“ zu vermeiden, verwenden wir seit den Sechziger- und Siebzigerjahren das Wort „gehörlos“.

Heute besteht wiederum eine Tendenz zum Wort „taub“, weil auch das Wort „gehörlos“ für Gehörlose beziehungsweise Taube eine negative Konnotation enthält: Gehörlos bezeichnet ein Defizit. Man sei ohne Gehör, man hat es verloren, was aber nicht immer der Fall ist. Man sagt auch zu den Blinden nicht „seh-los“. Das Wörtchen „taub“ gilt jetzt als eher positiv-neutral und signalisiert eine Nähe zur Taubenkultur und der Gebärdensprache. Die jüngere taube Generation möchte das damit erreichen.

WIE KANN MAN DAS ÄNDERN? UND WIE BEGEGNEN SIE DIESEM PROBLEM?

Carla Wegener: Durch Aufklärung. Wir versuchen über die Themen Gebärdensprache und Gehörlosenkultur zu informieren. Jedes Jahr findet in der ersten Augustwoche eine Sommerakademie rund um das Thema statt. Die Veranstaltung läuft eine ganze Woche lang und bietet Gebärdensprachkurse in verschiedenen Schwierigkeitsstufen, erste Übungen zum Dolmetschen und Übersetzen für Fortgeschrittene und eine Vorlesung zur Kultur und Geschichte der Gehörlosen an. Die Sommerakademie hat 2014 bereits zum fünften Mal stattgefunden. Sie zieht mittlerweile viele Interessenten unterschiedlicher Altersgruppen aus dem gesamten Bundesgebiet an.

Außerdem bieten wir an der Hochschule Fresenius regelmäßig Kurse in Deutscher Gebärdensprache an, die im Rhythmus einmal pro Woche laufen. Viele unserer Studierenden der Gesundheitsfachberufe Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie und Osteopathie nutzen diese Möglichkeit. Auf diese Weise strömen jetzt zunehmend Therapeuten in die berufliche Praxis, die Gebärdensprachkenntnisse besitzen. So ist es auch möglich, Forschung zum Beispiel im Bereich „Sprachanbahnung durch Gebärdensprache“ zu betreiben, ein Thema, an dem wir schon viele Jahre arbeiten.

Es geschieht nämlich immer wieder, dass Kinder nicht in die Lautsprache hineinfinden, obwohl sie ein ganz normales Gehör besitzen. Manchmal steht eine genetische Störung dahinter, manchmal weiß man einfach nicht, warum diese Kinder nicht anfangen zu sprechen. Immer wieder ist es uns aber gelungen, solchen Kindern in verschiedener Form Gebärdensprache anzubieten, und es passierte meist recht schnell, dass diese Kinder anfingen, Gebärdensprache zu verwenden und noch erstaunlicher: Sie fanden auf diesem Wege Zugang zur Lautsprache!

Und dann gibt es bei uns den berufsbegleitenden Master-Studiengang Gebärdensprachdolmetschen und eine Weiterbildung zum staatlich geprüften Gebärdensprachdolmetscher. Auf diesem Wege verlassen jedes Jahr gut ausgebildete Fachkräfte unsere Hochschule, die die Kommunikation mit Gehörlosen erleichtern.

NAJIMA, WARUM HAST DU DICH FÜR DIE WEITERBILDUNG ENTSCHIEDEN?

Najima El Haddad: Mich hat die Deutsche Gebärdensprache schon während meiner Schulzeit interessiert. Das Interesse entstand durch ein amerikanisches Jugendbuch, „Erin, am Ende des dunklen Tals“ von Lurlene McDaniel, das ich damals begeistert gelesen habe. Ich erachte die Gebärdensprache als sehr wichtig, gerade hier in Deutschland, da es nicht genug Dolmetscher für DGS gibt.

SIE BEIDE HABEN SICH AN DER ARD-THEMENWOCHE BETEILIGT UND EINEN SLAM ZUM THEMA TOLERANZ VERANSTALTET. WIE HAT DAS PUBLIKUM AUF DEN SLAM VON NAJIMA REAGIERT UND KÖNNTE DIE KÜNSTLERISCHE AUSEINANDERSETZUNG DAMIT DIE GEBÄRDENSPRACHE ANDEREN MENSCHEN ZUGÄNGLICHER MACHEN?

Carla Wegener: Viele Zuschauer, die noch keinen Kontakt zur Gebärdensprache hatten, haben mich nachher noch angesprochen und ihr Erstaunen und ihre Begeisterung geäußert. Einige haben bewusst nach Gebärdensprachslams gesucht und auch gefunden. Wieder einige werden zu uns in die Sommerakademie kommen und dort ihren ersten DGS-Kurs in Angriff nehmen.

NAJIMA, WAS HAT DICH INSPIRIERT, DIESEN TEXT ZU SCHREIBEN?

Najima El Haddad: In dem Text wollte ich verdeutlichen, dass Kommunikation nicht immer in Verbindung mit Lautsprachen erfolgen muss. Nonverbale Kommunikation ist fast jedem ein Begriff, doch denkt man nicht an visuelle Sprachen, die sogar aussagekräftiger und eindrucksvoller sein können als Lautsprachen.

IN DEINEM TEXT ÄRGERST DU DICH DARÜBER, DASS MENSCHEN DIE GEBÄRDENSPRACHE FÜR EINE ERFUNDENE SPRACHE HALTEN. PASSIERT DAS OFT UND WAS GLAUBST DU, WOHER DAS KOMMT?

Najima El Haddad: Ja, da herrscht eine unnötige Unwissenheit vor. Das merke ich, wenn ich gefragt werde, warum die Gebärdensprache nicht international ist – was recht häufig passiert. Ich erkläre dann, dass die hörende Welt ja auch nicht nur eine Sprache spricht. Da wir uns hier in Deutschland befinden, ist es logisch, dass man die Deutsche Gebärdensprache lernt und nutzt. In Amerika ist es ASL, die American Sign Language.

WIE REAGIEREN MENSCHEN DARAUF, WENN DU IN GEBÄRDENSPRACHE SLAMMST?

Najima El Haddad: Das kommt ganz gut an. Die Zuschauer sind begeistert. Die Faszination Gebärdensprache fesselt doch immer wieder viele Menschen. Ich hoffe nur sehr, dass es auch das Interesse weckt, die DGS selbst zu lernen.

BITTE BEENDEN SIE DIESEN SATZ: GEBÄRDENSPRACHE IST FÜR MICH…

Carla Wegener: Um mit den Worten von Theodor Fontane zu sprechen: „Ein weites Feld.“

Najima El Haddad: … eine meiner Lieblingssprachen, sehr praktisch im wahrsten Sinne des Wortes, einfach schön und besonders.