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Bloß kein Stress! So kommen Berufstätige gut durch den Jahresendspurt

Zum Jahresende ist die To-do-Liste vieler Berufstätigen lang. Ob es um das Budget, die Jahresplanung oder Kundengespräche geht – viele Aufgaben lassen sich nicht mehr aufschieben. Hinzu kommen die zahlreichen privaten Verpflichtungen in der Weihnachtszeit. Da scheint Stress vorprogrammiert. Psychologin Prof. Dr. Katja Mierke von der Hochschule Fresenius in Köln hat sich gemeinsam mit ihrer Kollegin Elsa van Amern damit beschäftigt, wie beruflichem Stress vorgebeugt werden kann, bevor er überhaupt entsteht.* Im Interview geben sie konkrete Tipps.

DIESELBE SITUATION WIRD NICHT VON ALLEN MENSCHEN ALS STRESSIG EMPFUNDEN – EINE NÄHER RÜCKENDE DEADLINE VERSTEHEN DIE EINEN ALS POSITIVEN ANSPORN, ANDERE ALS GROSSEN DRUCK. WIE KÖNNEN WIR DARAN ARBEITEN, DASS WIR EINE SOLCHE SITUATION POSITIV WAHRNEHMEN

Es hängt wesentlich davon ab, wie wir in dem Moment unsere Ressourcen einschätzen, die Lage zu bewältigen. Günstig ist es, sich daran zu erinnern, dass man ähnliche Situationen – möglicherweise in einem anderen Lebensbereich oder zu anderen Zeiten – schon einmal erfolgreich gemeistert hat. Dies kann man sich dann gezielt vor Augen führen und so seine Selbstwirksamkeitserwartung steigern. Es hängt aber auch schlicht von der aktuellen geistigen und körperlichen Verfassung ab, wie man seine Fähigkeiten und Möglichkeiten wahrnimmt, das kann ganz schön variieren. Nach entlastender Bewegung am Abend und einer entspannten Nachtruhe sieht der nächste Tag schon ganz anders aus. Zusätzlich gelingt es Menschen generell unterschiedlich gut, sich von stressverstärkenden Überzeugungen zu lösen. Wer z. B. denkt, alles allein und perfekt schaffen zu müssen, wird stärkeren Druck erleben als jemand, der sich bei Bedarf Unterstützung „erlaubt“ und zu pragmatischen Abstrichen bereit ist. Wann und wie ist es Ihnen schon mal gelungen „Fünfe gerade sein zu lassen“? Wer aus Ihrer Umgebung hat damals sogar positiv reagiert? Vielleicht lohnt es sich im neuen Jahr nachhaltig, an sich zu arbeiten. Wer chronisch unter Stress leidet, kann von Coaching sehr profitieren.

KLARE ZIELE DEFINIEREN SIE ALS DEN ERSTEN SCHRITT ZUR STRESSVORBEUGUNG. WIE GENAU KÖNNEN WIR UNS IM BERUFSLEBEN KLARE ZIELE SETZEN?

Gerade unter unangenehmer Anspannung verlieren wir an Klarheit und haben aus neurophysiologischen Gründen Schwierigkeiten, zusätzliche Aufträge abzulehnen. Genehmigen Sie sich eine kurze Auszeit, um über Ihren idealen Arbeitstag unter den derzeitig gegebenen Rahmenbedingungen nachzudenken. Dieses Ziel drehbuchreif – das heißt als Film mit allen Details – zu denken, hilft Ihnen, den „Blick für’s Wesentliche“ zu behalten. Dieser Film darf Ihnen Freude bereiten, Sie anziehen mitzuspielen. Tun Sie so, als wäre dieses klare Ziel schon erreicht. Achten Sie jetzt darauf, was Sie in diesem Film anders machen als bisher. Welcher nächste kleine Schritt wird Ihnen ermöglichen, im Alltag mehr „idealen Alltag“ zu leben?

Ziele kennen wir im beruflichen Alltag häufig als Kennzahlen, die von der zuständigen Führungskraft für die Mitarbeitenden gesetzt werden. Diese Ziele fühlen sich für den Einzelnen oft unerreichbar an und sind mit Stress assoziiert. Durch die mentale Vorwegnahme des Ziels, die drehbuchreife Formulierung, werden Missverständnisse und Machbarkeit deutlich. Ihre klaren Ziele stellen damit einen realistischen, konkreten von Ihnen gewünschten Zustand dar, der Ihnen ermöglicht, Grenzen zu setzen und Stress vorzubeugen. Es geht dabei nicht um die Veränderung der Bedingungen, unter denen Sie arbeiten, sondern um die Erweiterung Ihrer Möglichkeiten, mit diesen Bedingungen umzugehen. Im Buch finden Sie dazu vertiefende konkrete Tipps.

SIE SAGEN, STRESS ENTSTEHT UNTER ANDEREM, WEIL WIR ZU ANFORDERUNGEN JA SAGEN, ZU DENEN WIR EIGENTLICH NEIN SAGEN WOLLEN. WIE KOMMT ES DAZU UND WIE KÖNNEN WIR LERNEN, NEIN ZU SAGEN, OHNE DIE BEZIEHUNG ZU UNSEREN KOLLEGEN UND VORGESETZTEN ZU STRAPAZIEREN?

Das ist eines der Kernthemen des Buches. Das gemeinsame Ziel im Unternehmen sollte ja sein, zusammen Freude an der Arbeit und Erfolg zu haben, was die gesunde Leistungsfähigkeit aller erfordert. Wer sich dauerhaft überlastet, gefährdet nicht nur die eigene Gesundheit, sondern auch das Arbeitsklima und die Qualität der Ergebnisse. Mit dieser Erkenntnis dürfte ein punktuelles Nein leichter fallen: Es ist nämlich nicht egoistisch, sondern langfristig teamorientiert. Wer klare Ziele und Prioritäten hat, dem fällt es leichter, auch ein Nein für andere nachvollziehbar zu vermitteln. Den Kollegen ist ja nicht geholfen, wenn ich – unter Bauchschmerzen – Ja sage und später zurückrudern muss, weil ich es doch nicht schaffe oder gar krank werde und damit länger ganz ausfalle. Strapaziert werden Beziehungen zum einen durch derlei halbherziges „Herumeiern“, zum anderen, wenn es sich anfühlt, als sage man Nein zur Person, statt zu deren Anliegen. Wer sein Gegenüber menschlich spürbar wertschätzt und zugleich in der Sache eine klare Position bezieht, riskiert auf der Beziehungsebene nichts. Im Gegenteil findet man oft überraschend eine gemeinsame Lösung, wenn beide die Bedingungen offen benennen, unter denen sie gerade handeln. So kann es sein, dass Kollegin A den Kollegen B dann unterstützen kann, wenn C sie an anderer Stelle entlastet, oder dass es zwar nicht bis Dienstag geht, aber bis Donnerstag früh. Das erfordert Perspektivenübernahme, Respekt und Lösungsorientierung im Dialog, wertvolle Beiträge zur Kommunikationskultur in Organisationen, die weitreichende Wirkung haben können.

NUN KÖNNEN WIR NICHT ALLE AUFGABEN ABLEHNEN ODER SIE AUFSCHIEBEN, AUCH WENN BEREITS VIELE TO-DOS AUF UNSERER AGENDA STEHEN. WIE KÖNNEN WIR IN SO EINER SITUATION DENNOCH STRESS VORBEUGEN?

Natürlich kann auch jeder Einzelne seine Belastbarkeit über Sport, Ernährung, Schlaf, Meditation etc. erhöhen. Es darf aber nach unserem Verständnis nicht so sein, dass die Verantwortung so beim Arbeitnehmer landet und der quasi auch noch selbst schuld ist, wenn er angesichts dauerhaft überhöhter Anforderungen nicht immer einwandfrei „funktioniert“. Hier gilt es, einerseits Grenzen zu setzen und andererseits die Gemeinschaft im Team zu stärken. Da, wo das Miteinander in guter Stimmung funktioniert, wo Belastungsspitzen gemeinsam abgefangen werden, ist die Stressbelastung des Einzelnen geringer und Fluktuation sowie Krankenstand bleiben niedrig. Diese sind insofern ein recht guter Indikator für ungünstige Arbeitsbedingungen.

WIE KÖNNEN ARBEITGEBER UND FÜHRUNGSKRÄFTE DAZU BEITRAGEN, DASS IN IHREN TEAMS BZW. BEI IHREN MITARBEITERN KEIN STRESS ENTSTEHT?

Dies ist neben den klaren Zielen des Einzelnen und der klaren Kommunikation die dritte Ebene unseres Modells. Teams und Organisationen stellen im Idealfall flexible Systeme dar, die schnell auf wechselnde Anforderungen der Umwelt reagieren. Je komplexer die Umwelt und je schneller der Wandel, desto größer ist die Herausforderung an den Einzelnen, an Kommunikation und an Koordination im System. Im Grunde gilt das Gleiche wie auf Mitarbeiterebene: Die Führungskraft selbst sollte in der Lage sein, Ruhe zu bewahren, um gemeinsam mit dem Team klare, erreichbare Ziele und klare Grenzen zu vereinbaren. Ein übergeordnetes Ziel von Führung sollte stets ein gutes Teamklima und damit das Aufrechterhalten der gemeinsamen Denk- und Handlungsfähigkeit sein. Im Team kann man aufeinander achten, um Überlastungserkrankungen vorzubeugen, die der Betroffene häufig zu spät erkennt. Durch die Verschärfung im Arbeitsmarkt ist es möglich, dass eine dauerhafte überhöhte Arbeitsbelastung noch nicht mal durch die Schaffung neuer Stellen zu erledigen ist, sondern, dass zu ehrgeizige Termine oder ganze Aufträge verschoben werden müssen, weil sonst der Systemkollaps droht. Eine gemeinsame Wertekultur gesunder Leistungsfähigkeit und offenen Miteinanders helfen, kollektiv den Blick auf das Wesentliche zu wahren.

* Mierke, K. & van Amern, E. (2018). Klare Ziele, klare Grenzen. Teamorientiert Nein-Sagen und Delegieren in der Arbeitswelt 4.0). Heidelberg, Berlin: Springer